Leseprobe

1

Ich hatte vergessen, dass es so etwas wie außen und innen gibt. Einen Körper. Jetzt ist da dieses Kribbeln. In mir. Und es wird stärker, fast schon unangenehm. Trotzdem will ich dieses Gefühl auskosten, denn es ist das erste seit der großen Leere. Ich konzentriere mich darauf und stelle mir vor, ich könnte in meinen Körper hineinsehen, könnte die Ursache des Kribbelns ergründen, könnte beobachten, wie mein Blut sich schwerfällig in Bewegung setzt und schneller und immer schneller durch meinen Körper strömt. Inzwischen schießt es wie brennendes Benzin durch die Blutgefäße und wütet in meinem erstarrten Fleisch! Der Schmerz ist kaum auszuhalten. Ich will nach Luft schnappen, aber es geht nicht! Meine Muskeln gehorchen mir nicht, als wären die Nervenverbindungen zum Gehirn gekappt. Bin ich etwa gelähmt? Aber ich spüre doch meinen Körper, angefüllt mit Schmerz! So sehr ich mich auch anstrenge, mein völlig verkrampfter Brustkorb bewegt sich keinen Millimeter. Die Augenlider lasten auf den Augen wie festgetackert. Durch die geschlossenen Lider nehme ich einen schwachen roten Schimmer wahr. Ich will schreien, schaffe es aber nicht, den Mund zu öffnen. Das Rot kann ich plötzlich auch hören, auf- und abschwellend und unerträglich schrill. Drehe ich jetzt völlig durch? Konzentrier dich, Mann! Jetzt mach schon! Ich spanne alle Muskeln an, an die ich mich erinnere, ignoriere den explodierenden Schmerz und bäume mich auf, bis ich mit dem Kopf hart anschlage. Noch mehr Schmerz! Noch mehr Rot.
Doch jetzt löst sich wenigstens der Krampf meines Brustkorbs, ich sauge gierig übel riechende Luft in meine Lungen und stoße beim Ausatmen einen Schrei aus. Zumindest versuche ich es, denn was da über meine papiertrockene Kehle kriecht, ist kaum mehr als ein Krächzen. Beim zweiten Atemzug reicht es immerhin für einen rauen Brüller. Jetzt noch die Augen. Konzentrier dich, verdammt! Mit einer ungeheuren Kraftanstrengung reiße ich die Lider auf. Sie schrammen über die Augäpfel wie Sandpapier. Zuerst ändert sich nichts. Ich sehe immer noch Rot, nur viel intensiver als vorher. Es ist an den linken Rand meines Gesichtsfeldes gerutscht und gibt den Blick frei auf ein verschwommenes weißes Licht irgendwo über mir.
Ich strecke meine Hände danach aus, doch sie stoßen an ein Hindernis, gleiten daran entlang – es fühlt sich glatt an. Kalt. Unnachgiebig. Meine Finger tasten weiter, nach oben, nach unten, ich spanne noch einmal meine in Flammen stehenden Muskeln an, stemme mich dagegen – nichts passiert. Es dauert, bis sich die Erkenntnis wie ein Parasit in mein schmerzendes Hirn bohrt: Ich bin eingesperrt, liege unter einem lichtdurchlässigen Deckel wie in einem Sarg. Lebendig begraben! Angst schnappt nach meiner Kehle, mein gieriges Atemholen geht in panisches Keuchen über, der Gestank wird intensiver und mit ihm die Wut. Wie ein Wahnsinniger trommle ich mit den Fäusten gegen mein Gefängnis, ich scharre daran wie ein Hund, fühle meine Fingernägel splittern, höre mein eigenes, unmenschliches Gebrüll. Da trifft meine rechte Faust auf etwas Nachgiebiges. Mit einem Zischen gleitet die Decke meines Gefängnisses beiseite. Ich sammle meine Kräfte, springe auf – und versinke wieder im Nichts.

2

Als ich zum zweiten Mal zu mir komme, sehe ich immer noch Rot, und ich kann es auch nach wie vor hören. Aber diesmal bin ich mir sicher, dass es nicht bloß in meinem Kopf ist. Meine Augen wandern suchend umher und entdecken eine rot blitzende Alarmleuchte mit Sirene, die etwa zehn Meter entfernt von mir aus drei Metern Höhe schrille Warnsignale in den Raum schleudert.
Vorsichtig richte ich mich auf. Ich bleibe noch eine Weile hocken und warte darauf, dass der Schwindel vergeht. Dieses Mal lasse ich mir Zeit mit dem Aufstehen, ziehe mich ganz langsam am Rand meines Gefängnisses hoch und steige heraus. Es hat tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Sarg, aber keinem gewöhnlichen. Es ist eher so eine Art moderner Schneewittchensarg: zylindrisch, bestehend aus einem metallischen Unterteil mit ausgeschäumter Liegefläche und einem jetzt zur Seite geschwenkten, mit Staub bedeckten Glasdeckel.
Ich schaue an mir herunter und entdecke, dass ich in einem blauen Surferanzug stecke. Was hat das zu bedeuten? An Halsausschnitt, Hand- und Fußgelenken hängen Kabel heraus, die ich beim Sprung abgerissen haben muss. Ich zerre an denen herum, die aus meinem Ausschnitt baumeln, und halte mehrere Haftelektroden in der Hand, an denen meine Brusthaare kleben. In meiner linken Armvene stecken zwei Kanülen mit Schläuchen daran. Ich ziehe sie heraus und versuche, das herausquellende Blut mit der rechten Hand abzudrücken, aber es gelingt mir nicht, beide Stellen gleichzeitig zu erwischen. Blut sickert zwischen meinen Fingern durch und tropft zu Boden. Die Sirene macht mich verrückt. Reiß dich zusammen, Mann! Finde heraus, wo du bist. Ich sehe mich um. Über mir wölbt sich die Metallkonstruktion einer acht Meter hohen und vielleicht fünfzig Meter langen Halle. Sie ist leer bis auf zehn weitere zylindrische Behältnisse, die rechts von mir aufgereiht sind.
Mühsam torkle ich auf den ersten Behälter zu. Meine Beine scheinen aus Pudding zu bestehen. Ich stütze mich mit den Händen auf dem Glasdeckel ab, wische ein Guckloch in die Staubschicht und werfe einen Blick hinein. Drinnen liegt ein zartgliedriges, bleiches Mädchen mit geschlossenen Augen wie aufgebahrt. Doch es ist nicht tot, sein Körper zuckt und bäumt sich auf wie in einem epileptischen Anfall! Fieberhaft wühle ich im Staub des Glasdeckels herum auf der Suche nach einer Öffnungsvorrichtung und lege endlich einen grün leuchtenden Schalter mit einem Schlüsselsymbol frei. Ich schlage mit der Faust darauf. Der Deckel gleitet mit einem Zischen beiseite. Das Mädchen krampft weiter. Arme und Beine schlenkern grotesk herum wie bei einer Gliederpuppe. Aus ihrem rechten Mundwinkel kriecht blasiger Schaum. Sie stirbt! Ich kann sie doch nicht einfach so krepieren lassen! Ich packe sie an den Schultern, richte sie auf und schüttle sie so heftig, dass die kupferfarbenen langen Haare ihr wie ein glänzender Vorhang um die Ohren fliegen. Keine Reaktion.
„Atme! Du musst atmen, verdammt!“
Nichts. Nur dieses rhythmische Krampfen. Ich verpasse ihr Ohrfeigen mit der flachen Hand. Rechts, links, wieder rechts. Plötzlich hustet sie. Na endlich! Sie öffnet die Augen und schnappt wie ein aufs Trockene geworfener Fisch gierig nach Luft.
Sofort lasse ich sie los und wackle auf meinen Puddingbeinen zum nächsten Zylinder hinüber. Drinnen krampft der Körper eines athletisch gebauten Jungen mit kurz geschorenem Haar. Mir dämmert, dass ich zu langsam bin, dass ich meine Strategie ändern muss, wenn ich sie alle retten will. Also haste ich, so schnell es meine widerspenstigen Beine zulassen, von Behälter zu Behälter und schlage erst überall auf die grünen Tasten, bevor ich wieder zurückstolpere, mir der Reihe nach einen Erstickenden nach dem anderen vornehme und ihn durch Anschreien, Ohrfeigen und heftiges Schütteln zum Atmen bringe. Sobald die Schnappatmung einsetzt, lasse ich von meinem Opfer ab und stürze mich auf das nächste.
Endlich habe ich es bis zum letzten Zylinder geschafft. Das Mädchen darin liegt mit eigenartig angewinkelten Gliedern da. Ich streiche ihr die nutellabraune Lockenmähne aus dem Gesicht. Ihre dunklen Augen sind weit geöffnet und starren mich an, die Lippen schimmern bläulich, von beiden Mundwinkeln ziehen sich silbrige Speichelfäden zum Kinn. Ich bearbeite sie genau wie die anderen vor ihr, bis mich plötzlich jemand von hinten am Arm fasst. Als ich mich umdrehe, blicke in das blaue rechte Auge eines Jungen, der meinen Arm sofort loslässt.
Er schüttelt mit einem Kopfschlenker die schräge Vorhangfrisur vor dem anderen Auge beiseite und sagt: „Lass mich mal!“
Widerspruchslos trete ich zur Seite. Ich merke erst jetzt, wie erschöpft ich bin. Meine Beine zittern so sehr, dass ich mich auf den Rand des benachbarten Zylinders sinken lasse.
Der schmächtige Blonde beugt sich über das Lockenmädchen, legt kurz sein Ohr an ihren Mund und beginnt dann mit Mund-zu-Mundbeatmung und Herzmassage. Nach einer Weile horcht er wieder an ihrem Mund, richtet sich auf und schüttelt den Kopf. „Sie ist tot.“
„Quatsch“, entgegne ich und stoße ihn unsanft beiseite.
Wieder brülle ich auf das Mädchen ein und schlage ihm ins Gesicht, dass die Locken fliegen. Diesmal werden gleich meine beiden Arme von hinten festgehalten. Ich kratze das letzte bisschen meiner Kraft zusammen und versuche mich zu befreien, aber irgendjemand zieht mich mit erstaunlich festem Griff von dem Lockenmädchen fort, während die anderen sich in ihren blauen Surferhäuten um den Behälter versammeln und die reglose Gestalt darin stumm betrachten.
Der Blonde mit dem asymmetrischen Haarschnitt wendet sich in besänftigendem Ton an mich: „Lass gut sein. Sie ist definitiv tot. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, du hast genug getan. Es ist ganz sicher nicht deine Schuld.“
Ich spüre, wie der Unsichtbare hinter mir den Griff lockert. Mit einem Ruck befreie ich meine Arme und fahre herum.
Ein kräftiger Farbiger hebt beschwichtigend beide Hände und sagt: „Tut mir leid, Mann. Sah für mich so aus, als würdest du völlig durchdrehen.“
Ich ignoriere ihn und schaue wieder auf das tote Mädchen. Es starrt aus weit aufgerissenen Augen zurück. Ich kann nicht länger hinsehen und mustere lieber die Lebenden. Wir sind ein ziemlich seltsamer Haufen: vier Mädchen und sechs Jungen, alle in blauen Neoprenanzügen, aus denen wirrer Kabelsalat quillt. Hände, Arme und zum Teil auch die Anzüge sind blutverschmiert, aber das kommt wohl vom Ziehen der Kanülen, ansonsten kann ich keine ernsthaften Verletzungen erkennen. Alle sehen ziemlich mitgenommen aus. Ein paar von ihnen haben sich inzwischen auf den Boden gesetzt, die übrigen halten sich mühsam auf den Beinen, indem sie sich gegenseitig stützen oder an einen der Behälter lehnen. Und sie sind alle jung, mehr oder weniger in meinem Alter, auf jeden Fall noch keine zwanzig Jahre alt. Die Alarmleuchte übergießt ihre Gesichter pulsierend mit rotem Licht. Ich sehe sie mir genau an, erkenne aber kein einziges davon. Verwirrte, verstörte und entsetzte Blicke begegnen mir, in denen ebenfalls kein Erkennen aufblitzt. Wer zur Hölle sind die? Und was habe ich mit ihnen zu schaffen? Eine kleine Dicke, deren Fettwülste von dem engen blauen Anzug mit gnadenloser Exaktheit nachgezeichnet werden, heult lautlos vor sich hin. Die Tränen rollen ihr über die Hamsterbacken, kullern über den mächtigen Bauch und tropfen auf die nackten Füße.

3

„Okay, das war‘s. Die da hat‘s hinter sich. Lasst uns abhauen!“
Alle Blicke fliegen zu der Sprecherin und bleiben an ihr kleben. Die, die sich im Angesicht des Todes so abgebrüht gibt, ist ein mittelgroßes Mädchen mit schwarzer Stachelfrisur und mehrfach gepiercter rechter Augenbraue. Um ihren Hals rankt sich ein Stacheldraht-Tattoo.
Sie schleudert dazu passende Stachelblicke in die Runde und faucht: „Was glotzt ihr so? Wollt ihr hier Wurzeln schlagen, bis die uns kriegen?“
„Wer – die?“, fragt der Junge mit der Vorhangfrisur.
„Keine Ahnung, die eben, die uns in diese Dinger da gesperrt haben.“ Sie deutet mit dem Kinn auf die sargähnlichen Behälter. „Ihr könnt ja machen, was ihr wollt, aber ich hab keinen Bock drauf, denen noch mal in die Hände zu fallen.“
„Die Kratzbürste hat recht.“ Das kommt von einem gut aussehenden Typen, den ich mir genauso gut im dunklen Anzug wie in dieser blauen Neoprenhaut vorstellen kann. Er ist bestimmt 1,90 m, trägt die gewellten braunen Haare mit Mittelscheitel kinnlang und wirkt wie eine Kreuzung aus einem spanischen Surflehrer und einem auf lässig machenden Jungunternehmer. Jetzt sagt er in einem Ton, der jedem von uns die Schultern zurückzieht und die Wirbelsäule aufrichtet: „Ich gehe doch recht in der Annahme, dass keiner von euch weiß, wieso wir hier sind und wem wir unseren Aufenthalt in den Zylindern verdanken?“ Er schickt einen forschenden Blick in die Runde und fährt dann mit einem selbstzufriedenen Nicken fort: „Dachte ich mir schon. Wir müssen damit rechnen, dass die dafür Verantwortlichen schon hierher unterwegs sind. Der Alarm wird bestimmt weitergeleitet. Ich für meinen Teil lege auch keinen Wert auf eine Begegnung mit denen, die am anderen Ende der Leitung sitzen. Was auch immer die mit uns vorhaben, es dürfte uns wohl kaum gefallen.“
Er hat recht. Bloß weg von diesem unheimlichen Ort! Aber wie sollen wir das anstellen? Ich fühle mich noch immer so kraftlos, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann, und den anderen geht es sicher nicht besser. Andererseits – was haben wir schon für eine Wahl?
Der Lange nimmt uns die Entscheidung ab. Er wankt auf eine Tür am Ende der Halle zu, ohne uns weiter zu beachten. Wir anderen rappeln uns auf und tapern ihm hinterher. Er versucht die Tür zu öffnen, aber sie ist verriegelt. Er rüttelt daran. Nichts passiert. Langsam dreht er sich zu uns um, Ratlosigkeit im Blick. Die arrogante Selbstsicherheit ist für einen Augenblick aus seinem Gesicht gewischt, und sofort lassen alle die Schultern hängen.
Verdammt! Es muss doch einen Ausweg geben! Da setzt sich das Stachelmädchen in Bewegung. Es hangelt sich schwankend wie eine Besoffene an der Hallenwand entlang bis zu einem dort angebrachten Feuerlöscher, reißt ihn aus der Halterung und sinkt prompt unter seinem Gewicht zu Boden. Aber der Schwarze hat schon begriffen, was das Mädchen vorhat, hilft ihm auf und stemmt mit ihm zusammen den Feuerlöscher hoch. Er setzt den Abzugshebel an der Türkante an und versucht sie aufzustemmen. Zuerst verbiegt sich das Metall unter lautem Knarzen ein wenig. Wir halten den Atem an. Dann gibt das Schloss tatsächlich nach und die Tür springt auf.
Wir drängeln uns nach draußen in die Dunkelheit und bleiben kurz stehen, um unsere Augen an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Die Alarmleuchte schleudert ihre roten Lichtblitze noch einige Meter in die Nacht hinaus und schneidet für Sekundenbruchteile die Silhouette von Bäumen aus dem dunklen Nachthimmel. Abgesehen davon ist es stockfinster. Wir befinden uns offenbar in einem Wald. Außer einem dunkel schimmernden asphaltierten Bereich um die Halle herum ist keine Straße und kein Weg zu erkennen, nicht einmal so etwas wie ein Trampelpfad.
„Und was jetzt?“, fragt das rothaarige Mädchen. Es hat sich bei dem Schwarzen untergehakt und stützt sich schwer auf ihn.
In diesem Moment kann man undeutlich Geräusche hören, die von dem rhythmischen Jaulen der Alarmsirene überlagert werden. Wir stehen alle wie angewurzelt und lauschen. Jetzt kann man menschliche Stimmen ausmachen, die lautstark Befehle bellen. Ein Adrenalinstoß jagt durch meinen Körper. „Nichts wie weg, die sind uns schon auf den Fersen. Wir müssen uns irgendwo verstecken. Folgt mir!“ Der Lange hat seine Selbstsicherheit wiedergewonnen und schlägt sich geradewegs ins Gebüsch.
Und wieder mobilisieren wir auf sein Kommando unsere letzten Kräfte und setzen uns in Bewegung. Das Rudel folgt dem Leitwolf. Wir keuchen durchs Unterholz. Dünne Zweige peitschen mir ins Gesicht, die nackten Füße schmerzen von Dornen und Steinen, über die ich stolpere. Ich trete in etwas Glitschiges, nasses Moos vielleicht, hoffe ich, was anderes will ich mir lieber nicht vorstellen. Gleich vor mir ist das Stachelmädchen. Es hält sich erstaunlich gut, denn ich habe Mühe, den Abstand zwischen uns nicht größer werden zu lassen. Wir sind noch keine fünfzig Meter weit gekommen, da bleibt die Stachelige abrupt stehen. Sie wäre fast über eine lebensgroße Surfbarbie gestolpert, die dekorativ hingegossen vor ihr auf dem Waldboden liegt und schluchzt: „Ich kann nicht mehr!“
Der Mond hat sich ein Stück durch die Wolkendecke gekämpft und lässt ihr langes blondes Haar in der Dunkelheit schimmern. Der Schmächtige mit der asymmetrischen Schüttelfrisur, der sich schon beim Lockenmädchen als Samariter versucht hat, kniet bei ihr und streicht ihr tröstend über den Kopf.
„Tja, sehr schade, Schönheit, aber das war‘s dann wohl für dich“, ist der Kommentar des Leitwolfs.
Barbie guckt ungläubig, die hellen Puppenaugen erstaunt aufgerissen, den Schmollmund unter dem niedlichen Stupsnäschen protestierend geöffnet.
„Du kannst sie doch nicht einfach zurücklassen!“, empört sich der Samariter. „Wenn wir sie zu zweit unterhaken, wird es schon gehen.“
„Bei unserem körperlichen Zustand? Wir können uns ja kaum selber retten! Los jetzt! Die haben Hunde auf uns angesetzt.“
Tatsächlich hört man aufgeregtes Kläffen und Jaulen. Es zeichnet Angst in die Gesichter der Umstehenden, die mit einer Mischung aus Pflichtgefühl und einer Spur echten Mitleids ringt.
„Ihr glaubt doch nicht, dass die da auch nur einen Gedanken daran verschwenden würde, wenn einer von uns schlappgemacht hätte!“ Stachelmädchen wirft der Barbie einen abschätzigen Blick zu und gesellt sich zum Leitwolf. Es macht ihr offenbar Spaß, die Harte zu geben.
Ein kleiner orientalischer Typ schickt einen beschwörenden Blick aus lang bewimperten Samtaugen in die Runde. „Allah wird uns strafen, wenn wir uns nicht um die kümmern, die unsere Hilfe brauchen!“
„Dein Allah kann mich mal!“, schnauzt Stachelmädchen. „Wenn er Bock hat, kann er die ja gern selber abschleppen.“
„Leute – geht‘s noch? Wie lange wollt ihr denn noch diskutieren? Wir müssen hier weg! Wer wirklich die Kleine mitschleppen und sich schnappen lassen will – bitte sehr! Die anderen folgen mir und suchen nach einem Bach! Wenn wir durchs Wasser waten, verlieren die Hunde unsere Spur und wir können uns auf der anderen Seite ein Versteck suchen“, ordnet der Leitwolf an und haucht der fassungslosen Barbie mit bedauernd verzogenem Mund eine Kusshand zu, bevor er sich abwendet und weiter in den Wald eindringt.
Der athletische Junge mit der Soldatenfrisur folgt ihm auf dem Fuß, während die zierliche Blasse mit dem wallenden Kupferhaar immerhin eine Anstandssekunde zögert, bevor sie sich mit einem entschuldigenden Schulterzucken umdreht und den beiden hinterherstolpert. Stachelmädchen wirkt einen Moment lang unschlüssig, doch dann heftet es sich an die Fersen der drei.
Barbies Gesicht zeigt inzwischen den Ausdruck echten Entsetzens. Mit Kleinmädchenstimme fleht sie: „Bitte!“
Das weckt Beschützerinstinkte. Ohne weitere Diskussion helfen der Farbige und der Samariter ihr auf die Füße, legen sich jeweils einen ihrer Arme um die Schulter und ziehen sie mit sich. Es dauert gefühlte zwei Minuten, dann sind sie mit ihrer Kraft am Ende. Der Orientale und ich übernehmen die Schöne, die inzwischen völlig apathisch ist. Sie versucht nicht einmal mehr, ihre Füße aufzusetzen, die über den Waldboden schleifen. Ich sauge den schwachen Duft ihres seidigen Haares ein. Aprikosenshampoo, tippe ich. Die von der blauen Surferhaut eng umspannten Prachtbrüste zittern im holprigen Rhythmus unserer Schritte. Obwohl sie nicht viel wiegen kann, strengt es wahnsinnig an, sie mitzuschleppen. Lange können wir das unmöglich durchhalten, geschwächt wie wir sind. Das dicke Mädchen ist keine Hilfe, es hat genug mit sich selbst zu tun und keucht in immer größer werdendem Abstand hinter uns her. Das erwartungsvolle Gejaule der Hundemeute tippt uns schon auf die Schulter. Da treffen wir auf Stachelmädchen. Sie scheint auf uns gewartet zu haben.
„Hast du doch noch deine menschliche Seite entdeckt?“, spottet der Samariter.
„Halt‘s Maul!“, zischt sie. „Ich habe ein Stückchen weiter einen Bach entdeckt. Unsere einzige Chance mit der da im Schlepptau.“ Die Stachelige macht eine wegwerfende Kopfbewegung in Barbies Richtung.
Aus irgendeinem Grund freut es mich, dass sie sich nicht länger an den Leitwolf hält. Ohne eine Antwort abzuwarten, schlägt sie sich nach rechts ins Dickicht. Wir folgen ihr und stoßen auf den seichten Bach. Das eiskalte Wasser tut meinen geschundenen Füßen gut. Wir sind dem Bachlauf gerade mal ein paar Schritte gefolgt, als es hinter uns plumpst. Der Orientale und ich drehen uns mit unserer blonden Last um. Die Dicke hat sich einfach ins Wasser fallen lassen.
„Ich kann nicht mehr weiter“, heult sie und zittert dabei am ganzen Körper. Die Haare kleben ihr schweißnass am runden Schädel. Rotz läuft ihr aus dem rechten Nasenloch bis zum Kinn. Ich kann gar nicht hinsehen, aber der Orientale gibt beruhigende Laute von sich: „Schsch, schschsch. Ist ja schon gut.“
Ich beobachte die Stachelige, aber die schnappt diesmal nicht zu. Stattdessen zieht sie einmal scharf die Luft ein und presst dann hervor: „Also schön. Verstecken wir uns!“
Sie zerrt die Dicke unsanft auf die Füße und schiebt sie die Uferböschung hinauf. Wir hinterher. Die Umgebung hellt sich ein bisschen auf, und ein fahler Mond, der sich bisher die meiste Zeit hinter dichten Wolkengebirgen versteckt hat, hängt wie ein angebissener Pfannkuchen am Nachthimmel. Vor uns liegt eine Lichtung, die mit hohen Farnbüscheln und Fingerhut bewachsen ist. Wir dringen etwa bis zur Mitte vor und verbergen uns zwischen den Farnen. Rechts von mir liegt die Barbie mit geschlossenen Augen. Ihr Kopf ist in den Schoß des Orientalen gebettet, der ihr mit der Hand liebevoll Luft zufächelt. Währenddessen hockt der Samariter an ihrem Fußende und massiert ihr die Füße. Lächerlich, als könnte das gegen den totalen körperlichen Zusammenbruch helfen! Der Farbige sitzt links von mir neben dem dicken Mädchen und wischt ihm mit dem Ärmel seines blauen Anzugs über das verheulte Gesicht. Er erntet einen dankbaren Blick aus zwischen Fettwülsten eingequetschten Augenschlitzen. Die beiden flüstern miteinander. Ich spüre den Atem des Stachelmädchens warm zwischen meinen Schulterblättern und bemühe mich, keine Bewegung zu machen. Nur meine Hände spielen unruhig mit einem dicken Ast. Gedämpft hört man das Winseln der Hundemeute. Sie scheint wie erhofft unsere Spur im Wasser verloren zu haben. Leichter Wind kommt auf, und der im Mondlicht fahlrosa leuchtende Fingerhut nickt leise vor sich hin.
Auf einmal wird der Pfannkuchenmond von Wolken verschluckt. Es wird finster, und das Flüstern neben mir verstummt. Winzige grüne Lichtpunkte schweben jetzt über die Lichtung, verharren an einigen Stellen, werden dann weitergeweht und bleiben erneut in der Luft stehen.
„Glühwürmchen“, murmele ich überrascht und aufs Geratewohl, denn ich habe noch nie welche gesehen.
Stachelmädchens heißer Atem in meinem Rücken geht schneller. „Du ahnungsloser Träumer“, zischt es hinter mir.
Noch bevor ich weiß, wie ich auf diese Beleidigung reagieren soll, hängen die grünen Lichtpünktchen wie eine leuchtende Wolke direkt über unseren Köpfen. Ein kaum wahrnehmbares Surren begleitet sie.
„Scheiße! Wir müssen abhauen!“ Stachelmädchen rappelt sich auf und schlägt wie eine Verrückte nach den Lichtpünktchen, die aber geschickt ausweichen.
Jetzt hören wir auch die Hunde wieder. Ihr Gejaule klingt erwartungsvoll und kommt schnell näher. Sie müssen unsere Spur wiedergefunden haben. Die Stachelige stürmt einfach los, ohne sich noch einmal umzudrehen, der Schwarze und der Samariter reißen die stöhnende Barbie auf die Füße und schleifen sie mit sich, wir anderen hängen uns dran. Wir kämpfen uns kreuz und quer durch die dicht an dicht stehenden, fast brusthohen Farne, aber die grüne Lichtpünktchenwolke lässt sich nicht abschütteln. Mein Herz pumpt auf vollen Touren, mehr ist einfach nicht drin. Trotzdem habe ich das Gefühl, nicht vom Fleck zu kommen. Das verdammte Hundegebell ist mir dicht auf den Fersen. Ich spüre ein Stechen in meiner Lunge, und vor meinen Augen tanzen jetzt rote Flecken. Meine rechte Hand krampft sich um den knorrigen Ast, den ich mitgeschleppt habe.
Als ich fast den Rand der Lichtung erreicht habe, flammt mir ein gleißendes Licht direkt in die Augen. Ich stoppe abrupt und hebe die linke Hand schützend vor mein Gesicht. Unmittelbar hinter mir höre ich ein Knurren, das mich herumschnellen lässt. Da steht ein Riesenvieh mit blutunterlaufenen Augen, deren Ausdruck mich an meinem Platz festnagelt. Die Ohren sind angelegt, die Lefzen hochgezogen und entblößen die langen Fangzähne. Dann geht alles ganz schnell. Ich hebe abwehrend meinen Astknüppel, das Vieh drückt sich vom Boden ab, ich hole aus und erwische es noch im Sprung am Kopf. Es kippt auf die Seite und bleibt liegen, durch die Glieder läuft ein Zittern, dann streckt es einmal die Pfoten und bewegt sich nicht mehr. Der Knüppel gleitet mir aus den Händen und ich schaue in das brechende Auge des Tiers, unfähig, das, was ich da sehe, mit meinem Handeln in Verbindung zu bringen.
Da kommt ein fetter Kerl angekeucht, wirft einen Blick auf den Hund und brüllt: „Du mieses Schwein!“
Er verpasst mir einen Fausthieb auf die Nase, es gibt ein hässlich knirschendes Geräusch und heißer Schmerz zuckt durch mein Gesicht. Ich schmecke Blut, Blut spritzt mir in die Augen, und ich kralle meine Hände um die Kehle meines Angreifers und drücke zu. Der wirkt völlig überrumpelt und glotzt mich ungläubig an, so als hätte er überhaupt nicht mit Gegenwehr gerechnet. Mit Genugtuung sehe ich, wie sein Gesicht dunkelrot anläuft und die Augäpfel aus den Höhlen quellen. Ein bestialischer Gestank geht von ihm aus und macht mich rasend. Erst jetzt beginnt er, wild um sich zu schlagen, aber ich spüre seine Treffer kaum. Nun fingert er hektisch an meinen Händen herum und versucht vergeblich, die Finger einzeln von seinem Hals zu lösen. Ich drücke so fest zu, wie ich kann, und beobachte den Ausdruck seiner Augen, der von Wut über Panik zu etwas anderem wechselt, das ich nicht einordnen kann.
Im selben Moment, in dem mir klar wird, dass es Todesangst ist, spüre ich einen dumpfen Stoß in meinem Rücken. Meine Hände sind augenblicklich völlig kraftlos, sie lösen sich von der Kehle meines Gegners und rutschen an seinem Körper herunter, ohne Halt zu finden. Ich registriere eher überrascht als beunruhigt, dass meine Glieder plötzlich die Konsistenz von Gummi haben. Das stützende Knochenskelett hat sich in nichts aufgelöst. Wie in Zeitlupe sacke ich in mir zusammen zu einem unordentlichen Haufen Weichtierfleisch und sauge dabei meine Augen fest an dem Ausdruck von Todesangst im Blick meines Feindes. Dann kann ich auch meine Augenlider nicht mehr kontrollieren, die wie ein schwerer Vorhang über die Pupillen rutschen.

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